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Dankesrede von Dorothee Elmiger

Nicolas Born Preis 2022: Preisträgerin Dorothee Elmiger.   Bildrechte: MWK/Frank Wilde
Nicolas Born Preis 2022: Preisträgerin Dorothee Elmiger.

– seit der Nachricht aus Niedersachsen, wie ich sie für mich nannte, spazierte ich über verfrüht von den Bäumen gefallene Pflaumen, verkümmertes Obst, das die Möglichkeit der Bäume überstiegen hatte, ich sah helle Felder vor den Fenstern der ICEs, als brannten sie, als hätten sie gerade noch gelodert, und so war es ja irgendwie auch, ich las, drei Schweizer Bauern hätten das Wasser für ihre Kühe dieses Jahr von einem Helikopter geliefert bekommen; sofort hatte ich sie vor Augen, die auf 1632 Metern über Meer nah beieinanderstehenden Tiere im Abwind des Superpumas, die Köpfe nervös in die Höhe gereckt, und zwischen ihnen der Bauer im blauen Overall, der den Helikopter mit seinen Armen dirigiert. Ich war im Grunde nicht schlecht gelaunt.


Oder anders: Am Tag des Anrufs aus Niedersachsen stehe ich am Fenster eines Hotels an der Urania in Berlin, unter mir der unendliche, brausende Verkehr auf der achtspurigen Straße, zu meiner Linken, weit weg, die hohen Hotels am Alexanderplatz. Schön sieht das aus, nachts, und hin und wieder gondelt die hell leuchtende, doppelstöckige M29 vorbei, in der ich früher zur Universität gefahren bin. In der U-Bahn an diesem Tag oder am nächsten auf dem Infobildschirm das tägliche Zitat, heute von Marie Luise Kaschnitz, die gesagt oder geschrieben haben soll: «Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit.» Und dann, als ich die Stadt Richtung Frankfurt verlasse und am Südkreuz stehe, fällt ein Mann am Bahnsteig gegenüber aufs Gleis, kurz bevor der Regionalexpress nach Angermünde eintrifft, völlig geräuschlos fällt er, und im Fallen überschlägt sich sein Körper einmal, dann bleibt er liegen, seltsam unversehrt, und ich stehe an der Bahnsteigkante, alarmiert und wach, aber ohne einen Finger zu rühren. Wir warten auf den Zug nach Frankfurt. Es ist heiß. Niemand sagt etwas. Aber einer springt dann doch kurzerhand aufs Gleis, der kann das, er umgreift den Oberkörper des Mannes von hinten, Digger, sagt er, und zerrt ihn über den Schotter und hoch auf den Bahnsteig, als der Regionalexpress schon in der Ferne auftaucht. Und dann taucht auch der Zug nach Frankfurt auf, ich steige ein, I’m a poet and I know it and the poet ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner oder ihrer Zeit.


Oder wie es Nicolas Born in seiner in Klammer gesetzten Autobiographie formuliert: «Schreiben besteht aus Beschwörungsformeln, die Wirklichkeiten oder Tatsachen in Bann schlagen sollen. Es ist ein Modifizieren dieser Tatsachen, ein Durchlöchern dieser Tatsachen, ein Überbelichten dieser Tatsachen, ein Überwinden dieser Tatsachen.» Und dann: «Daß dieses Überwinden der Tatsachen in einem kulturellen Sektor der Gesellschaft, der Literatur geschieht, ist auch der größte Mangel der Literatur. Dingwörter sind nicht die Dinge selbst.»


Ja, genau

................und

.......................aber


oder die Freunde, Dichterfreundinnen spätabends in der Pizzeria: Aber was ich denn geglaubt hätte, natürlich werde kein Text je einen aufs Gleisbett Gefallenen wieder auf den Bahnstieg hieven können.


Die Frage, ob es im Grunde peinlicher ist, zu glauben oder zu behaupten, die Literatur, die eigenen Sätze könnten oder müssten – wären sie nur endlich bestechend, wären sie nur endlich hinreißend genug –, diesen sogenannten Sektor am Ende doch verlassen, sie müssten es doch schaffen, eine Wirkung zu zeitigen wie ein Bohrer, zum Beispiel, der durch drehende Bewegung ein Loch herstellt, oder eine Feile, die mit ihren feinen Zähnen Schicht um Schicht abträgt, zu glauben also, dieser «größte Mangel der Literatur» könne und müsse überwunden werden; oder ob die Peinliche vielmehr diejenige ist, die gar nichts dabei findet, dass Dingwörter nicht die Dinge selbst sind, die das nicht für skandalös hält, die sich selbst kein bisschen als Schwindlerin fühlt, wenn sie die Überwindung der Tatsachen nur auf dem Papier betreibt, die umgekehrt darauf besteht, es dürfe gar nicht darum gehen, die Sätze so zu engagieren und von ihnen zu verlangen, dass sie sich in Werkzeuge oder Instrumente, in Hebel verwandelten, denn Dingwörter seien nicht die Dinge selbst.


Bei Born heißt es, der Text und die Dinge seien aber doch, klar, miteinander verbandelt, sie in stünden in einer «interessante[n] Wechselwirkung», und bei dieser Wechselwirkung, bei der Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Beschreibung, zwischen Faktum und Möglichkeit könne angesetzt werden; und das leuchtet mir doch eigentlich ein, hat mir immer eingeleuchtet; auch was die Freundinnen in der Pizzeria sagen: Der Text als Sehhilfe, als Gegenvorschlag, als kritische Übersetzung, als Befragung der Verhältnisse.


Die wir dort sitzen oder hier, heute Abend, wir gehören zu jenen zehn Prozent der Leute, die so leben, als stünden uns, ja, wir wissen es, ungefähr vier bis vierzehn Planeten zur Verfügung, und das, genau, wissen wir, weil wir es gelesen haben; und wir essen und essen und essen einen Planeten nach dem anderen, und wir stoßen an, auch ich, klar, auch ich, gerade ich; wie schön das nämlich ist.


Natürlich ist es töricht, zu glauben, ein Text müsse doch etwas nach sich ziehen, eine Folge, und sei sie noch so fein, dass sie auf keiner Skala auftaucht, denn wozu sonst die Analyse, die Kritik, das Schärfen des Blicks, wenn sich nichts davon übersetzt, also klar ist es töricht und peinlich, aber ist es als Autorin nicht mein Beruf, eine Törin zu sein, dachte ich immer.


Jetzt gehe ich über das kaputte Obst, das die Bäume im Stress abgeworfen haben, und ich lese, was der Glaziologe Matthias Huss über den Zustand der Gletscher sagt: «Der Berg ist zum ersten Mal völlig schwarz», sagt er. Ein Bild des Griesgletschers am 13. Juli 2022 vom Weltraum aus gesehen: «A piece of dead ice in the middle of a desert.» Der Wissenschaftler als Totenkläger, der nur noch dokumentiert. Und sofort habe ich ihn vor Augen, den Berg, schwarz, klaffend, und dort der Glaziologe, der am Rande des toten Eises einen Tweet losschickt.


Zurzeit habe ich hin und wieder das Gefühl, alles was mir noch einfalle, seien solche Zeilen. Als könne auch ich nur noch dokumentieren: «A piece of dead ice in the middle of a desert.» Obwohl ich doch wirklich sehr gut gelaunt bin. Ich weiß nur nicht, wie die Gegenbilder, die besseren Landschaften jetzt gerade zu zeichnen wären, oder wie es gelingen könnte, die Realität, wie es bei Born heißt, in der Konfrontation mit «einer möglichen oder unmöglichen Gegenrealität» «transparent» zu machen, wenn wir die möglichen Gegenrealitäten, also die möglichen Zukünfte – aller Texte zum Trotz – doch sehenden Auges radikal und definitiv reduziert haben.


Denn wenn Born schreibt: «Die Literatur hat die Realität mit Hilfe von Gegenbildern, von Utopien, erst einmal als die gräßliche Bescherung sichtbar zu machen, die sie tatsächlich ist.» Dann denke ich: Diese Bescherung habe ich doch schon vor dreißig Jahren klar gesehen, ich wusste alles, brauchte schon als Kind keine Sehhilfe, keine Übersetzung, das Aussterben der Tiere, die Rodung des Regenwaldes, ich stand besorgt am Rand der Gletscher, der Meere, über mir riss das Ozonloch den Himmel auf, dann wurde ich älter, jetzt bin ich ein Sprachrohr der Ratlosigkeit, ein trichterförmiges Ding aus Blech, ich warte auf den Zug nach Frankfurt, ich stehe im Abwind des Helikopters auf 1632 Metern über Meer, ich esse täglich vier bis vierzehn Planeten, ich esse die winzigen, kaputten Pflaumen.


Es gäbe schöne und kluge Sätze bei Born, mit denen ich jetzt noch die Kurve kriegen könnte, Sätze über den radikalen und absoluten Anspruch der Kinder an die Welt, ihren Anspruch auf Glück, den es wieder einzuführen gilt, zum Beispiel. Aber vielleicht soll diese Kurve für einmal nicht gemacht werden, ich lasse Sie und mich einfach stehen am Rand des Griesgletschers am 13. Juli 2022; vom Weltraum aus gesehen, sind wir eigentlich nicht erkennbar.


Dorothee Elmiger, 14. September 2022


Nicolas-Born-Preis

Der Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen wird seit dem Jahr 2000 zu Ehren des Schriftstellers Nicolas Born verliehen. Ausgezeichnet werden herausragende Autorinnen und Autoren für ihre literarischen Leistungen. Seit dem Jahr 2019 wird der Preis alle zwei Jahre im Wechsel mit dem Walter Kempowski Preis für biografische Literatur vergeben.

Ausgezeichnete und Preisverleihungen

Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur vergibt verschiedene Literaturpreise: den Nicolas-Born-Preis und den Nicolas-Born-Debütpreis sowie den Walter Kempowski Preis für biografische Literatur. Nachfolgend finden Sie alle Literaturpreisträgerinnen und -preisträger im Überblick.

Artikel-Informationen

erstellt am:
14.10.2022

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