Nicolas-Born-Preis
Der Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen wird seit dem Jahr 2000 zu Ehren des Schriftstellers Nicolas Born verliehen. Ausgezeichnet werden herausragende Autorinnen und Autoren für ihre literarischen Leistungen. Seit dem Jahr 2019 wird der Preis alle zwei Jahre im Wechsel mit dem Walter Kempowski Preis für biografische Literatur vergeben.
Laudatio von Lisa Kreißler
Hier, im Gestrüpp
Feuer. Grenzen. Zucker. Wie schön lassen sich die Motive der Romane von Dorothee Elmiger doch aneinanderreihen. Und ohne Zweifel darf an dieser Stelle festgehalten werden: „Einladung an die Waghalsigen“, der Debütroman der damals 25-jährigen Schweizer Schriftstellerin, erschienen im Jahr 2010, liest sich heute mit einem Schauer von Prophetie. Er erzählt von einer kaum bewohnbaren Wüstenlandschaft, beherrscht von unterirdischen Feuern, in der zwei Schwestern, die eine lesend, die andere leibhaftig unterwegs im Gelände nach einem Fluss suchen. Die mutigen jungen Frauen lassen sich von Herkunftsfragen nicht aus der Ruhe bringen. „Meine Mutter war Hemingway, ich bin womöglich Don Quijote.“[1] Mit sanfter Kühle vertrauen sie auf das Mittel der Recherche, auf die Möglichkeit, Grenzen zu überwinden. „Wir müssen uns im wärmsten Raum des Hauses treffen! Wir müssen zu Recht behaupten, dass dieser Zustand nicht der letzte ist. Wir dürfen nicht glauben, dass die Dinge unumstößlich sind.“[2], schreibt Margarete Stein, die lesende Erzählerin dieser ersten in kurzen Notizen dargereichten Dorothee-Elmiger-Wirklichkeit. Aber wohin sollen die Schwestern reiten auf dem weißen Pferd Bataille? Sind sie denn nicht die fast letzten Menschen? Und völlig zu recht, tritt in diesem Moment „Schlafgänger“, ihr zweiter Roman an die Rampe des Theaters der Gegenwartsdiskurse: „Who’s there?“ fragen dort, nach Shakespeare, die Stimmen einer Übersetzerin, eines Logistikers, und eben all jener, die an den Grenzen der Länder, Sprachen, Wahrheiten operieren. Wir Leser geraten in ein nächtliches Labyrinth der Heimatlosigkeit und all der Ungerechtigkeiten, die mit den Migrationsbewegungen auf dem europäischen Kontinent, aber auch weltweit, einhergehen. Es sprechen nicht die Schlafgänger selbst, die ohne Wohnung und illegal in einem fremden Land arbeiten. Ihre Geschichten sind die Leerstelle, der Negativabdruck des Sprechens unserer in Sicherheit lebenden Verwandten. Das Buch stellt in seiner verwinkelten Architektur die politische Forderung nach mehr Gerechtigkeit. Sterben müssen ja auch alle gleichermaßen. Der Journalist ruft den Logistiker an und gibt die Weisheit der Bienensprüche an ihn weiter: „der Gedanke, dass einem im Falle des Todes der Atem in Form einer einfachen Biene aus dem Körper fahre, gefalle ihm gut.“[3] Den Logistiker hingegen beunruhigt das: „Ich öffnete den Mund, ich stand mir selbst gegenüber und betrachtete diese dunkle Höhle in meinem Gesicht, die leer war, kein Laut entwich ihr, und ich ging durch die Räume, ich bewegte leicht alle Vorhänge, fuhr durch die Luft mit meinen Händen, um mich zu versichern, dass nirgendwo eine Biene saß und bereits meinen Tod verkündete.“[4]
Die Vorhänge sind in Bewegung in „Schlafgänger“, aufgestört vom Hauch der zu Gespenstern degradierten Menschen, die Zuflucht suchen, wenn schon nicht in einer gerechten Gesellschaft, dann wenigstens stundenweise in einem gemieteten Bett. Auch Dorothee Elmigers dritter Roman „Aus der Zuckerfabrik“ ist ein politischer Text. Thema: Kolonialmacht und Begehren. oder: Der Zusammenhang zwischen Sehnsucht und Essen. Hier macht sie es uns nicht mehr so leicht, einen Finger auf einen möglichen Kern des Textes zu legen - und sie macht es sich selbst nicht leicht. Die Schriftstellerin geht ins Gestrüpp, obwohl sie ihre schöne Samthose trägt. Sie sucht nach Abstand von einer Recherche rund um eine Filmszene aus einem Dokumentarfilm über den ersten Schweizer Lottomillionär Werner Bruni. Der Mann gewann viel Geld, verlor das ganze Geld dann wieder. Bei der öffentlichen Versteigerung seines Eigentums ereignet sich die „unlösbare Szene“: Zwei kleine schwarze Holzskulpturen, nackt und weiblich, werden in die Luft gehalten. Wer möchte sie haben? Für wenig Geld, diese, Arbeiterinnen, ja, Sklavinnen von den haitianischen Zuckerplantagen? Auch C., dem Geliebten der Schriftstellerin, wird laufend etwas angeboten, zum Beispiel eine saftige Birne. Aber C. zeigt keinen Appetit. Er schaut in die Schränke und bleibt reserviert. Die Schriftstellerin reist ins französische Plaisir. Sie hat Lust, hat Fragen. Sie hat Hunger. Und doch möchte sie ihren Körper am liebsten aus dem Text heraushalten. Aber ihr Körper ist Teil der unlösbaren Szene, so weit der Zuckerhandel und das Schicksal des Lottomillionärs auch von ihrer eigenen Anwesenheit hier entfernt zu liegen scheinen. Merleau-Ponty hilft, „der schreibt, dass das Wort „hier“ eben nicht eine Ortsbestimmung im Verhältnis zu anderen Orten, an denen sich der Körper auch aufgehalten hat, oder zu anderen Koordinaten sei. Sondern dass das Wort „hier“ in diesem Sinn eben immer die „Festlegung der ersten Koordinaten überhaupt“ bezeichne.“[5]
Landschaft. Karte. Körper. Auch diese Zuschreibungen ließen sich machen zu den drei aufrüttelnd aufmerksamen waghalsigen Texten von Dorothee Elmiger. Die eigentliche Brillanz aber liegt in einer tieferliegenden Schicht der Struktur dieses Erzählens verborgen. Ganz tief im Innern arbeiten ihre Texte dafür, unser Bedürfnis nach Gewissheiten stiller werden zu lassen, mögliche Kausalzusammenhänge einmal beiseite zu tun und sich wirklich einzulassen, auf das, was Merleau-Pontys hier vielleicht nahe kommt: einem wirklichen Hinblicken. In der Zuckerfabrik heißt es: „Ich weiß ja auch selbst nicht besser, wie das ginge: Die Dinge, die ich beschreibe, mir nicht zu nehmen, sie nicht haben zu wollen und sie nicht zu schmälern, so eindeutig zu bestimmen, sondern sie im Gegenteil noch freier und unabhängiger zu machen, als sie es waren, bevor ich zum ersten Mal ein Auge auf sie warf.“[6]
Dieser demutsvolle Blick macht die Texte von Dorothee Elmiger so wertvoll. Dieser Blick ist das, was Virginia Woolf mit Durchlässigkeit gemeint haben könnte. Dorothee Elmiger schreibt nie allein. Ihr Schreiben ist gemeinsames Denken, der Intertext konstitutiv. Ihre eigenen Erfahrungen nimmt sie ebenso ernst wie die Berichte der anderen. Der Anblick einer Landschaft steht gleichberechtigt neben einer Frage, auf die niemand eine Antwort hat. Jedes Wort wird dabei mit Bedacht an das nächste gesetzt. Ernst, klug und niemals ohne Witz tastet diese eigenwillige Sprache nach den rätselhaften unlösbaren Szenen, aus denen das, was wir als „Wirklichkeit“ bezeichnen, sich zusammensetzt. Es ist ein politisches Schreiben, ja. Kolonialisierung, weibliches Begehren, Krieg, Flucht, kaputte Welt, all diese Diskurse sind enthalten. Aber sie sind eingewebt in eine zukunftsweisende Ästhetik, die nicht von einer Gruppenzugehörigkeit her denkt, sondern vom Menschen. Jede Figur ist ein Mensch in Dorothee Elmigers Texten, vor allem das, ein Mensch.
Die Schriftstellerin mit der Samthose geht ins Gestrüpp. Dort tschilpen Vögel. Schultern zuckend kommt sie wieder daraus hervor. Sie hat einen Riss in ihrer Hose und wird wahrscheinlich an den Schreibtisch zurückkehren. Aber sie ist nicht mehr dieselbe wie am Anfang ihrer Suche. Und auch wir sind nicht mehr dieselben, nachdem wir die Texte von Dorothee Elmiger gelesen haben. Die Welt darf danach in vielen aufregenden unlösbaren Szenen durcheinanderfliegen, und wir dürfen einen Augenblick in diesem Gestrüpp verweilen, den Vögeln zuhören und nicht weiter wissen. Liebe Dorothee Elmiger, im Namen der gesamten Jury gratuliere ich ganz herzlich zum Nicolas-Born-Preis 2022!
[1] „Einladung an die Waghalsigen“, Dorothee Elmiger, S. 75
[2] ebenda, S. 97
[3] „Schlafgänger“, Dorothee Elmiger, S. 28
[4] ebenda, S. 28/29
[5] „Aus der Zuckerfabrik“, Dorothee Elmiger, S. 90
[6] ebenda, S. 155
Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur vergibt verschiedene Literaturpreise: den Nicolas-Born-Preis und den Nicolas-Born-Debütpreis sowie den Walter Kempowski Preis für biografische Literatur. Nachfolgend finden Sie alle Literaturpreisträgerinnen und -preisträger im Überblick.
- Nicolas-Born-Preise 2022: Dorothee Elmiger und Yade Yasemin Önder
- Walter Kempowski Preis für biografische Literatur 2021: Kurt Drawert
- Nicolas-Born-Preise 2020: Judith Schalansky und Thilo Krause
- Walter Kempowski Preis für biografische Literatur 2019: Jochen Schimmang
- Nicolas-Born-Preise 2018: Lisa Kreißler und Christoph Ransmayr
- Übersicht Preisträgerinnen und Preisträger seit 1979 (PDF-Dokument, nicht vollständig barrierefrei)
Artikel-Informationen
erstellt am:
14.10.2022