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Laudatio von Kathrin Dittmer

Kathrin Dittmer   Bildrechte: MWK/Frank Wilde
Kathrin Dittmer

Sehr geehrter Herr Minister,

liebe Gäste des Landes Niedersachsen,

liebe Dorothee Elmiger,

und –vor allem – liebe Yade Yasemin Önder!

Ich freue mich, hier sprechen zu dürfen, und will Ihnen gerne sagen, warum Sie den hier heute mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichneten Roman „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ lesen sollten.

Furios ist ein Wort, das passen kann für Yade Yasemin Önders ersten Roman. Im Sinne von mitreißend.

Wenn man so viel lesen will und muss wie ich, besteht eine gewisse Gefahr darin, irgendwann Texten nicht mehr gerecht zu werden und – déformation professionelle – bestenfalls mit Gleichmut an jedes Buch heranzugehen. Also bemühe ich mich um Aufmerksamkeit und Frische beim Lesen. Das ist nicht immer leicht.

Doch dann kommt ein Stück Literatur, in dem schon der erste Satz umwerfend ist. Ich schlage „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“, dessen surreal poetischer Titel mich schon angezogen hatte, auf, und kippe aus der Betrachtung direkt in den Orbit der Welt, die Yade Yasemin Önder geschaffen hat. Oder, um genauer zu sein: In die Welt, die ich lesen darf. Wo lande ich? Auf einer Wiese, in einem Jahr, an das ich mich ziemlich genau erinnere. Da beginnt Yade Yasemin Önders Roman:

„An einem Tag ein Jahr nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese geboren. Geschrien haben muss ich lang, und dunkel war meine Stimme schon bei der Geburt, sagte man mir.“

Das also die ersten beiden Sätze. Die Wiesen waren in diesen Tagen unsichere Orte, Nahrung verdächtig. Ich war schon Studentin und damals scherzten wir rau: „Du kannst ruhig alles essen, nur besser nicht ins Gras beißen.“ Gras, Obst, Pilze wurden gemieden. Milch weggeschüttet.

Doch die Familie der Ich-Erzählerin im Buch siedelt im Gras:

Auf die Wiese hat mein Vater eine Dreizimmerwohnung gebaut und meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne. Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme und Moos, und das Wetter tat sein Übriges: Ausgebleicht waren alle von der Witterung, vor allem die aus Holz. Die Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal. Egal war aber nicht, der Herd kam zu spät, es war schon Dezember, erst dann konnte die Milch, die nicht von meiner Mutter stammte, in einem kleinen roten Töpfchen erhitzt werden. Das schmeckte mir, dann grinste ich, und mein Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Dreizimmerwohnung im Park.“

In dieser nicht einmal vollständig zitierten ersten Seite des Romans deutet sich alles an, was später eine Rolle spielen wird. Und wir wollen mit Spannung weiter lesen, gleichzeitig ein wenig ängstlich, was Gras, Moos und Familie noch hervorbringen werden oder verschlucken. Ich bange um das selbstvergessene Kind, das schreit und grinst und noch nicht wissen kann, dass die Wiese ein unsicherer Ort ist. Und ein Platz, der denen bleibt, die keinen besseren bekommen können.

Furios ist ein Wort, das passen kann zu Yade Yasemin Önders erstem Roman. Im Sinne von wild.

Anarchisch sei die Sprache, so kündigt es der Verlag Kiepenheuer & Witsch an. Da assoziiert man schon nicht so ganz falsch, aber ich glaube, dass bei Önder am Anfang erst das Wort steht und dann die Geschichten kommen. Tastend, manchmal mutig durch die Zeiten springend, fügt sich Fragment an Fragment zum Panorama einer Jugend, die von einer Essstörung geprägt ist.

Die Geschichte ist hart, die Sprache schön, auch schön drastisch und direkt, auch humorvoll. Es ist ein Erzählen, das bei den Menschen bleibt und sie zugleich wie durch Glas betrachtet. Es ist ein Buch über das Leben junger Frauen in der Bundesrepublik Deutschland am Ende des letzten Jahrhunderts, eine Geschichte über die öffentliche Verfügbarkeit weiblicher Körper, die Abwertung weiblicher sexueller Kraft, die Selbstbehauptung, den Ekel, Stoizismus, Hilflosigkeit und Selbstermächtigung und auch über soziale Herkunft.

Es ist auch furios im Sinne von wütend. Und manchmal reimt sich der Text, insbesondere wenn das Erzählte schwer erträglich wird. Dann kommt auch zum Tragen, was etwas ganz Besonderes ist: Ein Trick beim Erzählen. Geklaut, wie die Autorin im Interview lachend sagt. Bei Raymond Queneau. Seine Stilübungen haben etliche von uns noch in der Schule gelesen: Die immer gleich banale Begebenheit wird aus Sicht verschiedener Personen immer wieder erzählt. Önder nutzt dieses Verfahren, um ihrer Ich-Erzählerin Distanz zu zerstörerischen Erfahrungen zu gestatten. Und auch uns Leser:innen lässt sie so Raum, das schwer Erträgliche zu ertragen. Eine große Stärke dieser Erzählweise ist auch, dass sich die Rollen komplex und mit manchem Widerspruch spiegeln lassen. Dass sich etwas zunächst normal anfühlt, bis man merkt, das diese Norm aus Zumutungen besteht und nicht gelebt werden kann.

Bislang hat Yade Yasemin Önder vor allem Theaterstücke veröffentlicht und wurde gleich mit ihrem ersten Stück „Kartonage“ zu den Autorentheatertagen 2017 nach Berlin eingeladen. Sie hat vor dem Abitur und Studium erst verschiedene Berufe ausprobiert, um dann doch – zum Glück – am Leipziger Literaturinstitut und beim Schreiben anzukommen. Mit Auszügen aus dem jetzigen Buch hat sie 2018 den, für den literarischen Nachwuchs wichtigen, Open-Mike-Wettbewerb des Hauses für Poesie Berlin gewonnen. Die Überschrift lautete da noch „Bulimie-Miniaturen“. Es ist daraus ein rasanter und ungewöhnlich erzählter Roman geworden.

„Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ ist vieles: Ein Adoleszenz-Roman, ein Familiendrama mit grotesken Zügen, eine facettierte Betrachtung fataler Sozialisierung junger Frauen, eine Krankheitsgeschichte und noch viel mehr. Doch vor allem überraschende, überzeugende Literatur! Yade Yasemin Önders eigener Ton, ihre Fabulierkunst, ihr abgründiger Humor und die überzeugende Erzählhaltung sind preiswürdig.

Ich empfehle Ihnen allen dringend „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ zu lesen. Und ich danke Yade Yasemin Önder für dieses Buch, in dem ich über eine Generation hinweg so viel von mir und den Meinen erkennen durfte und so viel Neues.

Liebe Yade Yasemin Önder, ich freue mich, dass Sie diesen Preis des Landes Niedersachsen erhalten und gekommen sind, ihn anzunehmen.


Hannover, 14.09.2022, Kathrin Dittmer


Nicolas-Born-Preis

Der Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen wird seit dem Jahr 2000 zu Ehren des Schriftstellers Nicolas Born verliehen. Ausgezeichnet werden herausragende Autorinnen und Autoren für ihre literarischen Leistungen. Seit dem Jahr 2019 wird der Preis alle zwei Jahre im Wechsel mit dem Walter Kempowski Preis für biografische Literatur vergeben.

Ausgezeichnete und Preisverleihungen

Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur vergibt verschiedene Literaturpreise: den Nicolas-Born-Preis und den Nicolas-Born-Debütpreis sowie den Walter Kempowski Preis für biografische Literatur. Nachfolgend finden Sie alle Literaturpreisträgerinnen und -preisträger im Überblick.

Artikel-Informationen

erstellt am:
14.10.2022

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